Fütterungs- & Essstörungen in der frühen Kindheit
Inhaltsverzeichnis
Was ist eine Fütterungsstörung?
Vorübergehende Probleme beim Füttern bzw. der Essensaufnahme sind normal und durch die Anpassung an neue Arten des Fütterns oder Essens im Verlauf der Entwicklung bedingt. Eine Fütterungsstörung liegt erst vor, wenn das Füttern mehrmals am Tag schwierig ist – über einen Zeitraum von länger als vier Wochen. Können Kinder schon (teilweise) selbst essen, spricht man bei dieser Symptomatik von einer Essstörung im frühen Kindesalter. Die Mahlzeiten dauern etwa überdurchschnittlich lange, es sind vielfältige Ablenkungsmanöver beim Füttern notwendig oder eine unübliche Fütterungsposition muss eingehalten werden. Auch häufiges Würgen oder Erbrechen kann auftreten. Das Fütterungsproblem steht dabei oft im Mittelpunkt und dominiert den Alltag.
Es ist wichtig, auch kurzfristige Schwierigkeiten beim Füttern mit der Kinderärztin/dem Kinderarzt zu besprechen, da Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr besonders für Säuglinge täglich unabdingbar sind. Zudem ist das Risiko weiterer Essstörungen im Leben erhöht, wenn eine Fütterungsstörung vorliegt. Auch daher ist eine rasche Abklärung und Behandlung wichtig.
Arten der Nahrungsverweigerung
Verweigern Säuglinge oder kleine Kinder die Nahrung, kann das auf verschiedene Weisen erfolgen, z.B.:
- Ausspucken,
- Kopf wegdrehen,
- Löffel wegschieben,
- erbrechen
- würgen bzw.
- Mund verschließen.
Die aufgenommene Menge an Nahrung wechselt zudem stark. Es fällt Eltern in diesen Fällen meist schwerer, bei ihren Kindern Hunger und Sättigung zu unterscheiden.
Gedeihstörung beobachten
Es ist möglich, dass sich zusätzlich zur Fütterungsstörung auch eine Gedeihstörung zeigt. Diese äußert sich in einer Gewichtsabnahme oder fehlender Gewichtszunahme. Vorübergehende Probleme beim Füttern von Säuglingen sind häufig, Gedeihstörungen hingegen seltener. Sie können auch unabhängig von Fütterungsstörungen auftreten und haben dann meist körperliche Ursachen. Mittels einer Wachstumskurve kann Ihre Kinderärztin/Ihr Kinderarzt feststellen, ob Ihr Kind gut wächst und gedeiht.
Außerdem lässt sich beobachten, dass die kindlichen Essfähigkeiten nicht dem Alter entsprechen.
Oft kommt es zusätzlich zu anderen Problemen wie häufiger Unruhe, Schlafstörungen oder ausgeprägte Schreiphasen.
Welche Ursachen haben Fütterungsstörungen?
Fütterungsstörungen können unterschiedliche Ursachen haben – von körperlichen Erkrankungen bzw. Fehlbildungen über Entwicklungsverzögerungen bis hin zu schmerzhaften Erfahrungen und Problemen in der Eltern-Kind-Beziehung. Zu den Ursachen zählen:
- Körperliche/organische Ursachen: z.B. Störungen der Magen-Darm-Funktion, angeborene Fehlbildungen (z.B. Fehlbildung der Speiseröhre), Überempfindlichkeit im Mundbereich, unterentwickelte Kaumuskulatur oder Schluckprobleme.
- Regulatorische Probleme: Der Säugling lernt mit der Zeit, sein Verhalten und seine Empfindungen zu regulieren, z.B. damit umzugehen, kurz nicht unterhalten zu werden oder seine Bedürfnisse mithilfe des Gegenübers wahrzunehmen und zu äußern. Treten sogenannte „Regulationsstörungen“ auf, gelingt dieses Lernen nicht bzw. nicht gut. Dies kann mehrere Gründe haben, z.B. eine Entwicklungsverzögerung oder Eltern-Kind-Interaktions-Problematik. Auch Schrei- und Schlafprobleme können auf eine Regulationsstörung zurückzuführen sein.
- Traumatische Erfahrungen: Das Kind hat erlebt, dass Berührungen im Gesicht, Mund oder Rachenbereich bedrohlich oder schmerzhaft sind. Dies kann z.B. durch (operierte) Fehlbildungen in diesem Bereich bedingt sein, Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts (z.B. häufiges Erbrechen durch Sodbrennen) oder durch intensivmedizinische Behandlung (z.B. durch die lange Anwendung von Sonden).
Die Rolle der Eltern-Kind-Interaktion
Eltern und Kinder stehen untereinander in Beziehung und Wechselwirkung. So können Belastungen in der Schwangerschaft (z.B. vorzeitige Wehen), Geburtskomplikationen (z.B. Notkaiserschnitt) oder Probleme/Erkrankungen in der ersten Zeit nach der Geburt (z.B. Infektion des Kindes, Depression der Mutter) Spuren hinterlassen, welche die Eltern-Kind-Beziehung belasten und sich auf die Kindesentwicklung auswirken.
Meist zeigt sich neben der problematischen Nahrungsaufnahme ein bestimmtes Muster bei der Eltern-Kind-Interaktion. Nicht selten entsteht dabei ein „Teufelskreis“, der Eltern an ihre Belastungsgrenzen bringt. Auch Machtspielchen finden ihren Platz beim Essen, z.B.:
- Ab einem entsprechenden Alter wird um das Essen verhandelt.
- Die fütternde Person versucht, das Kind zu stark zum Essen zu bewegen.
- Das Kind versucht abzulenken und macht die Erfahrung, dass Nichtessen mehr Spaß macht als Essen etc.
Mittels therapeutischer Maßnahmen kann dieser „Teufelskreis“ jedoch durchbrochen werden, und die Eltern-Kind-Beziehung kann sich verbessern.
Wie wird die Diagnose einer Fütterungs- und/oder Essstörung gestellt?
Laut ICD-10, der internationalen Klassifikation der Krankheiten, liegt unter folgenden Voraussetzungen eine Fütterungsstörung vor: Nahrungsverweigerung, extrem wählerisches Essverhalten bei einem angemessenen Nahrungsangebot und einer einigermaßen kompetenten Betreuungsperson, kein Vorliegen einer organischen Erkrankung. Begleitend kann Heraufwürgen von geschlucktem Essen eine Begleiterscheinung sein (Rumination). Mittlerweile wird in aktuellen deutschen Leitlinien eine Orientierung an Empfehlungen der US amerikanischen kinderpsychiatrischen Vereinigung empfohlen.
Welche Formen von Fütterungsstörungen gibt es?
Bei Fütterungsstörungen können verschiedene Probleme und Symptome auftreten. Je nachdem werden in der Medizin verschiedene Formen unterschieden:
- Regulations-Fütterungsstörung: Es zeigen sich vor allem Schwierigkeiten in Verhaltens- und Gefühlsregulation. Das Kind wirkt während des Fütterungsprozesses selten oder gar nicht zufrieden.
- Fütterungsstörung der reziproken Interaktion: Hier fehlen übliche Reaktionen des Kindes während der Füttersituation. Es gibt keinen oder kaum Blickkontakt, Lächeln oder Lautierung.
- Frühkindliche Anorexie: Nahrungsverweigerung (nicht aufgrund eines traumatischen Erlebnisses oder einer körperlichen Erkrankung) und deutlicher Wachstumsmängel treten auf. Kaum Interesse am Essen. Kann ab dem sechsten Lebensmonat auftreten.
- Sensorische Nahrungsverweigerung: Vermeidung von bestimmten Nahrungsmitteln (nicht in Folge eines traumatischen Erlebnisses oder einer körperlichen Erkrankung). Oft bei Einführung von Beikost (neuer Geschmack etc.).
- Fütterungsstörungen in Verbindung mit medizinischen Erkrankungen: Die Nahrungsverweigerung tritt bei einer Krankheit begleitend auf.
- Fütterungsstörungen in Verbindung mit unangenehmen Reizen/Erfahrungen in Bezug auf den oberen Verdauungstrakt (posttraumatische Fütterungsstörung): Nahrungsverweigerung nach unangenehmen Erfahrungen, die mit Reizen des oberen Verdauungstraktes zu tun haben (z.B. Sondennahrung, Absaugen, Würgereize etc.).
Ausführliches ärztliches Gespräch & Untersuchung
Zu Beginn der Diagnostik von Fütterungsstörungen steht ein ausführliches ärztliches Gespräch sowie die Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese) durch die Kinderärztin/den Kinderarzt. Dabei finden unter anderem folgende Punkte Berücksichtigung:
- Stillen
- Fütterungssituation
- Ernährung (Beikost etc.)
- Gewicht
- Essgewohnheiten in der Familie
- Tagesablauf
- sonstige Auffälligkeiten bzw. Symptome
- Belastungssituation der Eltern bzw. Familien-/Paarsituation
Ernährungsprotokolle können helfen, dem Essensproblem auf die Spur zu kommen. Ebenso findet eine körperliche Untersuchung sowie eine genaue Erfassung der derzeitigen Entwicklung des Kindes statt. Es können auch Laboruntersuchungen und andere Abklärungen zur Anwendung gelangen. Organische Ursachen müssen ausgeschlossen werden.
Weitere diagnostische Möglichkeiten
Besteht der Verdacht auf eine Fütterungsstörung ist neben der kinderärztlichen auch eine kinderpsychiatrische bzw. – klinisch-psychologische/psychotherapeutische Diagnostik sinnvoll.
Videogestützte Verhaltensbeobachtung
Zeigen sich keine organischen Ursachen, hilft zudem ein psychotherapeutisches bzw. beratendes Gespräch weiter. Dabei kommen unter anderem auch videogestützte Verhaltensbeobachtung und Analyse der Fütterungssituation zum Einsatz. Auch die Beziehung zwischen Bezugspersonen und Kind wird dabei betrachtet, um hilfreiche Impulse für die Förderung dieser zu geben. Durch Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktionen ergeben sich Anregungen, die für Diagnostik und Therapie wichtig sind. Fütterungsprobleme äußern sich auch in Form von Bindungsproblemen. Nähere Informationen über Bindung finden Sie unter Eltern-Kind-Bindung.
Besteht bei der Bezugsperson/den Bezugspersonen eine psychische Belastung wird diese/diesen eine dementsprechende Beratung/Behandlung empfohlen. Denn eigene psychische Erkrankungen können sich nicht nur auf die erwachsene Bezugsperson selbst negativ auswirken, sondern auch auf den Verlauf der kindlichen Essstörung. Besondere Risikofaktoren sind elterliche Depression und eigene Essstörungen, aber auch Angst-, posttraumatische Belastungs- und Persönlichkeitsstörungen.
Hinweis
Eine kinderärztliche Untersuchung ist in jedem Fall von Fütterungsstörungen unumgänglich, um organische Ursachen auszuschließen beziehungsweise diese rechtzeitig zu diagnostizieren!
Wie erfolgt die Behandlung von Fütterungsstörungen?
Die Therapie einer Fütterungs- bzw. Essstörung im frühen Kindesalter besteht aus mehreren Säulen und erfordert ein gewisses Durchhaltevermögen. Ist die Störung schwer ausgeprägt, kann auch eine Behandlung im Krankenhaus notwendig sein. Zur Behandlung zählen: Ernährungsberatung, logopädische Therapie des Empfindens und der Motorik des Mundes, Ergotherapie sowie begleitende psychosoziale Maßnahmen (z.B. Unterstützungsmöglichkeiten für den Alltag wie bei den Frühen Hilfen).
Je nach Art der Fütterungsstörungen fließen besondere Aspekte in die Behandlung mit ein z.B. eine Eltern-Kind-Psychotherapie, Psychoedukation (das Erklären von Ursachen und Möglichkeiten der Behandlung der Fütterungsstörung), medizinische Behandlung von Grund- und/oder Begleiterkrankungen. Im Verlauf der Therapie sind körperliche Untersuchungen, Gewichtskontrollen und oft auch Wiedervorstellungen bei Spezialistinnen/Spezialisten notwendig.
Beratung zu Essensregeln
Eine Beratung soll auch bei auffälliger Fütterungssymptomatik ohne eindeutige Diagnose erfolgen. Bei der Beratung können Essensregeln erklärt werden – unter anderem:
- Feste Mahlzeiten,
- Zwischenmahlzeiten planen,
- Dauer der Mahlzeiten maximal 30 Minuten,
- außer Wasser keine Nahrung zwischen den Mahlzeiten,
- kein Zwang von Außen zu essen,
- kein Spielen während des Essens,
- Essen nicht als Geschenk oder Belohnung,
- kleine Portionen,
- zuerst feste Nahrung, dann Flüssigkeit,
- aktives Selbst-Essen unterstützen,
- isst das Kind nichts mehr – nach ca. fünf bis zehn Minuten das Essen wegräumen,
- schmeißt das Kind voller Wut die Nahrung um sich, das Essen beenden,
- Mund abwischen erst nach Beendigung der Mahlzeit.
In der Arbeit mit Videos können Fütterungsszenen gemeinsam mit den Behandlerinnen/Behandlern angesehen werden und gemeinsam an befriedigenden Fütterungsarten gearbeitet werden.
Hilfe für die Eltern-Kind-Beziehung
Findet sich die Ursache für die Problematik in der Eltern-Kind-Beziehung, gibt es mehrere Möglichkeiten einer klinisch-psychologischen Beratung oder Psychotherapie (bis hin zur Familientherapie) – z.B. in einer Ambulanz für Schrei-, Schlaf- und Fütterungsprobleme. Dabei werden unter anderem Verhaltens- und Interaktionsmuster aufgedeckt und so mancher sich aufschaukelnde Teufelskreis durchbrochen. Mittels Training der Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit der fütternden Person für die kindlichen Signale ist eine Verbesserung der Fütterungssituation möglich.
Hinweis
Es ist wichtig, Fütterungsstörungen rechtzeitig zu behandeln, um die Kindesentwicklung so gut wie möglich zu fördern sowie Erkrankungen frühzeitig zu erkennen.
Wohin kann ich mich wenden?
Leidet Ihr Kind unter Fütterungsstörungen, führt der erste Weg zur Kinderärztin/zum Kinderarzt. Diese/dieser leitet entsprechende weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen ein.
Wie erfolgt die Abdeckung der Kosten?
Die e-card ist Ihr persönlicher Schlüssel zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Alle notwendigen und zweckmäßigen Diagnose- und Therapiemaßnahmen werden von Ihrem zuständigen Sozialversicherungsträger übernommen. Bei bestimmten Leistungen kann ein Selbstbehalt oder Kostenbeitrag anfallen. Detaillierte Informationen erhalten Sie bei Ihrem Sozialversicherungsträger. Weitere Informationen finden Sie außerdem unter:
Die verwendete Literatur finden Sie im Quellenverzeichnis.
Letzte Aktualisierung: 30. Juni 2020
Erstellt durch: Redaktion Gesundheitsportal
Expertenprüfung durch: Dr.in Brigitte Bechter