Genderaspekte bei Arzneimitteln
Inhaltsverzeichnis
Warum wirken Arzneimittel bei Männern und Frauen unterschiedlich?
Frauen und Männer sprechen oft unterschiedlich auf eine Behandlung mit Medikamenten an. Diese Unterschiede sind hauptsächlich auf anatomische, physiologische und hormonelle Faktoren zurückzuführen. Alter und Hormone spielen z.B. eine wichtige Rolle bei der Anreicherung, Verteilung, der Verstoffwechslung und der Ausscheidung von Medikamenten. Bei Frauen können Veränderungen während des Menstruationszyklus, während der Schwangerschaft und während des Übergangs in die Menopause auftreten. Diese können wiederum einen Einfluss auf die Wirksamkeit der Behandlung und unerwünschte Arzneimittelwirkungen haben.
Die Aufnahme von Medikamenten im Körper
Tabletten verbleiben bei Frauen um rund ein Drittel länger im Magen als bei Männern. Die Magen-Darm-Passage dauert bei Frauen insgesamt länger als bei Männern, insbesondere die Dickdarmpassage. Der Grund ist, dass die Sexualhormone Östrogen und Progesteron die Beweglichkeit des Darms hemmen und so die Magen-Darm-Passage verlängern. Dies kann die Aufnahmemenge und die Aufnahmegeschwindigkeit eines Wirkstoffes beeinflussen.
Auch das Mikrobiom in Magen und im Darm beeinflusst die Arzneimittelaufnahme. Die Bakterien im Darm unterscheiden sich bei Männern und Frauen signifikant. Das Darm-Mikrobiom verändert sich auch während der Schwangerschaft. Es wird u.a. durch die Pille beeinflusst, aber auch durch Medikamente wie Protonenpumpenhemmer, Paracetamol, Opioide oder Metformin.
Die Verteilung im Körper
Männer sind durchschnittlich größer und schwerer als Frauen. Hingegen ist der Fettgehalt des weiblichen Körpers höher. Dadurch verteilen sich Wirkstoffe unterschiedlich im Körper. Bei Frauen ist die Konzentration eines Wirkstoffes bei Einnahme der gleichen Arzneimitteldosis im Körper aufgrund des Gewichtsunterschiedes oft höher als bei Männern. Fettlösliche Medikamente werden im Fettgewebe gespeichert und verbleiben daher bei Frauen länger im Körper als bei Männern.
Die Verstoffwechslung (Metabolisierung)
Wirkstoffe von Medikamenten können von Enzymen aktiviert und inaktiviert bzw. so umgewandelt werden, dass sie (besser) ausgeschieden werden können. Die Aktivität von Enzymen ist bei Frauen und Männern nicht gleich. Das kann zu einer verstärkten oder abgeschwächten Wirkung bzw. verlängerten oder verkürzten Wirkdauer führen. Auch Lebensstilfaktoren können die Enzymaktivität beeinflussen.
Der Wirkort
Medikamente wirken oft an Bindungsstellen für körpereigene Stoffe (Rezeptoren) oder an Kanälen, die das Ein- und Ausströmen von geladenen Teilchen (Ionen) in die bzw. aus der Zelle ermöglichen. Je größer die Anzahl dieser Bindungsstellen oder Kanäle ist und je besser ein Wirkstoff eine Bindung mit einem Rezeptor oder Kanal eingehen kann, desto stärker ist seine Wirkung. Zusätzlich hängt seine Wirkung auch von der Verteilung von Rezeptoren oder Kanälen im Körper ab. Anzahl, Verteilung im Körper und Form von verschiedenen Rezeptoren und Kanälen sind bei Frauen und Männern nicht gleich. Dadurch können sich Arzneimittelwirkungen bei den beiden Geschlechtern unterscheiden.
Die Ausscheidung
Arzneimittel werden meist über die Nieren oder den Darm ausgeschieden. Bei Männern werden Medikamente schneller über die Nieren ausgeschieden als bei Frauen. Auch die Darmfunktion kann sich geschlechtsabhängig unterscheiden.
Wechselwirkungen mit weiblichen Geschlechtshormonen
Auf die Aufnahme, Verstoffwechslung, Wirkung und Ausscheidung von Arzneimitteln können folgende Faktoren Einfluss nehmen:
- Hormonschwankungen während des Menstruationszyklus und während der Schwangerschaft,
- die Einnahme von hormonellen Verhütungsmitteln und
- die Hormontherapie bei Wechselbeschwerden.
Nebenwirkungen
Frauen berichten häufiger von Arzneimittel-Nebenwirkungen als Männer.
Ursachen dafür sind u.a.:
- das höhere Risiko von Überdosierungen bei im Durchschnitt niedrigerem Gewicht,
- Unterschiede in der Pharmakokinetik, die unzureichend untersucht und berücksichtigt werden,
- Unterschiede in der Pharmakodynamik,
- Unterschiede in der Anwendung von Arzneimitteln.
Außerdem können Fehldosierungen und unerwünschte Wirkungen bei Frauen bei geringerem Frauenanteil in Arzneimittelstudien möglicherweise schwieriger erkannt und erst nach Zulassung von Medikamenten genauer untersucht werden. Durch die oben genannten Auswirkungen von Schwankungen des Hormonspiegels auf Arzneimittel können unerwünschte Wirkungen in verschiedenen Lebens- bzw. Zyklusphasen gehäuft auftreten.
Beispiele für geschlechtsabhängige Unterschiede
In dieser Tabelle finden Sie Beispiele für Medikamente, bei denen Wirkungs- oder Nebenwirkungsunterschiede bei Mann und Frau vermutet bzw. nachgewiesen werden konnten:
Medikamentengruppe |
Beispiele |
Geschlechtsspezifische Unterschiede |
Schmerzmittel |
bestimmte Opiate (z.B. Morphin) |
stärkere Wirkung und höheres Risiko für Nebenwirkungen bei Frauen |
Ibuprofen | wahrscheinlich stärkere Wirkung bei Männern | |
Blutdrucksenker | Metoprolol | stärkere Wirkung und höheres Risiko für Nebenwirkungen bei Frauen |
ACE-Hemmer | häufiger Husten als Nebenwirkung bei Frauen | |
einige Antidepressiva | Fluvoxamin, Sertralin | stärkere Wirkung bei Frauen |
Blutgerinnungshemmer |
Acetylsalicylsäure (ASS) |
schwächere Wirkung gegen Koronare Herzkrankheit (KHK) vor der Menopause bei Frauen, die keine hormonellen Verhütungsmittel anwenden |
Clopidogrel, Heparin | höheres Blutungsrisiko bei Frauen | |
Medikament gegen Herzschwäche/schnelles Vorhofflimmern | Digoxin | höhere Konzentration im Blut von Frauen mit möglicherweise schweren Nebenwirkungen bei Überdosierung |
Genderaspekte in der Arzneimittelforschung
Über viele Jahre hinweg waren Frauen im Verhältnis zu Männern weniger in Studien vertreten. Dies führte dazu, dass wichtige Daten zu Wirkung und Verträglichkeit in der Arzneimittelforschung fehlten.
Ende der 1990er-Jahre wurde in den USA auf staatlicher Ebene eine Leitlinie veröffentlicht, in der eine Einbeziehung von Frauen auch im gebärfähigen Alter ausdrücklich empfohlen wurde.
In Österreich gewann die Einbeziehung spezifisch weiblicher Gesundheitsfaktoren in die Wissenschaft in den 2000ern langsam an Bedeutung. Mit der Etablierung der Gender Medizin wurde der Einfluss des Geschlechts auf Erkrankungen sowie auf die medizinische Behandlung, Forschung und Prävention erstmals berücksichtigt.
Ein weiterer wichtiger Meilenstein ist die EU-Verordnung Nr. 536/2014 über klinische Prüfungen. Diese gesetzliche Neuerung enthält Bestimmungen für die Einbeziehung von schwangeren und stillenden Frauen in klinischen Studien.
Geschlechtsunterschiede bei Arzneimittelstudien
Klinische Studien müssen nach den Regeln der „guten klinischen Praxis“ geplant, durchgeführt und ausgewertet werden. Diese umfasst einen Katalog international anerkannter ethischer und wissenschaftlicher Qualitätsanforderungen.
Die „gute klinische Praxis“ für Arzneimittelstudien erfordert die Untersuchung von geschlechtsabhängigen Wirkungsunterschieden von Medikamenten. Dies wird bei der Prüfung von neuen Wirkstoffen immer mehr beachtet.
Weitere Informationen finden Sie unter Klinische Prüfung von Arzneimitteln | Gesundheitsportal
Gesetzliche Regelungen
Im Österreichischen Arzneimittelgesetz wird auf die Regelungen der Europäischen Union für die „gute klinische Praxis“ bei Arzneimittelstudien verwiesen. Das Europäische Arzneimittelgesetz verpflichtet dazu, dass die Zusammensetzung der Studienteilnehmer: innen die Zielgruppe widerspiegeln muss, für die das untersuchte Medikament vorgesehen ist. Wenn diese Zusammensetzung mit der Zielgruppe nicht übereinstimmt, muss dafür eine Begründung angegeben werden.
Für Frauen, die an einer Arzneimittelstudie teilnehmen, muss eine Schwangerschaft vor Studienbeginn ausgeschlossen werden. Weiters ist die Anwendung einer sicheren Verhütungsmethode Voraussetzung für eine Studienteilnahme.
Die verwendete Literatur finden Sie im Quellenverzeichnis.
Letzte Aktualisierung: 10. April 2025
Erstellt durch: Redaktion Gesundheitsportal
Expertenprüfung durch: Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit